Osterpredigt

  Eine der Fragen, auf der die besondere „Liebe“ vieler Schüler zu ihrem Deutschlehrer und der ganzen Literatur fußt, ist die tiefsinnige Frage „Was wollte der Dichter uns damit sagen?“ – eventuell einfallsreicher formuliert, aber dem Sinn nach also die Versuche der Interpretation. Einige Religionslehrer machen sich das etwas leichter: Sie erklären den Schülern gleich, wie die Geschichte zu verstehen ist – und zwar genau so. Allerdings übersehen sie dabei geflissentlich, dass sich das Christentum von einer verfolgten zu einer verfolgenden Institution gewandelt hatte.

Jede gute Geschichte hat einen wahren Kern und eine Aussage, die sie nicht agitatorisch, sondern als mehr oder minder gute Parabel eingekleidet verbreiten soll.

Berücksichtigen wir möglichst, dass keine absolut zeitnahen Schilderungen der Ereignisse gibt, dass es mindestens eine Figur gibt, die für sich in Anspruch nehmen könnte, DER Jesus zu sein, dass wenn etwas durch mündliches Weitersagen erhalten wird, es in einer dem Erzähler entsprechenden Weise ausgeschmückt wird und aus den Weitersag-Geschichten sich erst etwa 300 Jahre nach den Ereignissen eine „amtliche Lesart herausschälte, dann darf man, was erzählt wird, als eine eigene Form der Literatur betrachten.

Die Ereignisse von Karfreitag bis nach der Kreuzigung braucht man nicht nachzuerzählen. Sie dürften als Allgemeingut in unserem Kulturkreis gelten. Aber wie viel Wahrheit steckt in jener Grundgeschichte, wenn wir den Versuch anstellen, sie von der Lesart offizieller Kirchenpropaganda zu befreien.

Nehmen wir Jesus Christus als Revolutionär. Das ist nicht weit hergeholt. Das Urchristentum hatte noch eine konsequente Aussage: Die Verhältnisse, unter denen die Menschen auf der bekannten Erde zusammenleben, sind ungerecht. Diese Ungerechtigkeit wird ihnen durch andere Menschen angetan, die durch ihren Besitz auffallen.

(Beide Teilaussagen wurden später durch „die Kirche“ relativiert und ihres Sinns entleert.)

Es ist ebenfalls nicht abwegig, dass ein kluger Mensch zu dem Gedanken durchdrang, dass eine gewaltsame Änderung der Verhältnisse nicht möglich war. Genauer: dass sie nur die Personen an der Macht ausgetauscht hätte.

Die (scheinbare) Rettung: eine Dauerhafte moralische Überlegenheit derer, die aus der Spirale der Gewalt in Duldung ausweichen und damit das kurze Erdenleben für ein unendliches Himmelsleben opfern. Für den, der vom Leben im Himmel überzeugt ist, eine lohnende „Investition“.

Konsequenz ist gefragt. Auch die ersten Jünger des neuen Glaubens sind nicht alle zur totalen Konsequenz fähig. Sie sind Menschen und unter ihnen findet sich ein Verräter, der den Almosen der Macht erliegt.

Für den Überzeugten aber kann es kein Wanken geben. Er muss seinen Weg zu Ende gehen. Dieser Weg kann den äußeren Anschein der totalen Niederlage, der größten Qualen und Demütigungen annehmen. Aber natürlich macht das erst den Unterschied:Das Vorbild muss durch die persönliche Kraft überzeugen.

Besonders pikant: Jene Volksmassen, für deren seelisches Heil sich der Überzeugte Jesus aufopfert, verleugnet ihn in Anbetracht der Gewalt der Macht – aus zwei Gründen: Aus Feigheit und gewohnte Unterwürfigkeit die Massen,aus Furcht und taktischen Erwägungen der Selbstbehauptung für spätere, Erfolg versprechendere Einsätze die unmittelbaren Jünger.

Der vorauseilende Gehorsam der Massen geht so weit, einen individuellen Verbrecher eher begnadigt zu verstehen als den gesellschaftlichen „Verbrecher“, der die bestehende Ordnung in Frage stellt.

Schön hierbei, dass der, der versteht, also Jesus, weiß, dass e verzeihen muss und kann.

Wichtig für die Geschichte ist das Motiv der Schuld. In dialektischem Sinne lädt natürlich jeder als Kind seiner Verhältnisse Schuld auf sich, hat aber „das Himmelreich“ verdient, wenn er sich von seiner Vergangenheit zu lösen vermag. Hier war das Urchristentum sogar weiter als viele Kommunisten: Man kann das „Himmelreich“ ja nur mit den Menschen errichten, die tatsächlich da sind. Und man kann nicht alles Glauben mit einem Schlag durch Wissen ersetzen.

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