Über den Zweifel (1 – eine Fantasie-Reise in die Vergangenheit)

   Viele werden, anderer persönlicher Erfahrungen wegen, abwinken. Vielleicht war es wirklich nur ein ganz besonderes Glück. Ich hatte in der Schule tatsächlich eine Lehrerin im DDR-Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde, bei der es immer interessant war. Sie animierte uns zum Zweifeln an allem, was uns als „Wahrheit“, vor allem „ewige Wahrheit“ angepriesen würde. Auf die Frage, ob dies auch für das gelte, was im Stabü-Lehrbuch stand, antwortete sie, daran sollt ihr nicht nur zweifeln, daran müsst ihr zweifeln. Anders werdet ihr nie im Sinn von Marx, Engels und Lenin denken und handeln.

Der Versuch, diese frisch erworbene Weisheit auch im Geschichtsunterricht anzuwenden, wurde mir schnell zum Verhängnis. Ich lernte also, dass nicht überall dasselbe drin ist, wo „marxistisch“ drauf steht. Also gibt es entweder keine Wahrheit oder mehrere?! Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass es zuerst einmal darauf ankommt, festzustellen, was der andere wirklich meint, ob er überhaupt auf derselben Ebene argumentiert. Denn auf jeder Ebene kommt mitunter ein anderes Ergebnis raus. Also wenn man eine „Lüge“ stillschweigend als gegeben anerkennt, werden neue Lügen logisch wahr …

Später ging mir der böse Sinn der Forderung, an allem zu zweifeln, erst richtig auf. Da erahnte ich aber auch, welch zweifelhafter Ratgeber doch der „gesunde Menschenverstand“ dabei sein kann.

Glaubt ihr mir, dass die Erde eine Scheibe ist, über der sich die Sonne bewegt?
Nein, das ist Unsinn? Gut. Einverstanden.

Aber jeder sagt doch, ohne groß darüber nachzudenken, „Die Sonne geht auf“ oder „Die Sonne geht unter“. Ist das falsch?

Nun stellt euch vor, ihr hättet all die Zusammenhänge von Physik und Astronomie in der Schule nicht so gelernt wie er sie gelernt hat. Was seht ihr?

Die Sonne geht morgens auf, bewegt sich in jahreszeitlich unterschiedlichen Bahnen über den Himmel und geht auf dessen anderen Seite wieder unter. Das sieht jeder wirklich.

Nun stellen wir uns vor, wir hätten dies als richtig in der Schule gelernt, verbunden mit Erklärungen wie, das alles sei der unergründliche Wille eines über dem Ganzen wachenden Schöpfers, hätten wir daran gezweifelt?

Wie hätten wir danach reagiert, wenn ein voreiliger Ketzer dahergekommen wäre, der mit wissenschaftlichen Argumenten zu erklären versucht hätte, die Erde drehe sich als Kugel mit uns obendrauf um jene Sonne da? Hätten wir ihn nicht mit gutem Recht als Spinner verlacht? Hätten wir es nicht völlig richtig gefunden, wenn er als Ketzer verbrannt worden wäre, da er uns doch mit dieser Darstellung unseren Schöpfer und damit das für später versprochene paradiesische Ewigkeitsleben raubte? Können wir heute so ehrlich sein, dass wir das wahrscheinlich so gesehen hätten? Mit wirklich gesundem Menschenverstand„?!

Die einzigen, die mit gesundem Menschenverstand hätten darauf gekommen sein können, dass die Erde eine Kugel ist, waren die Seeleute. Warum ist der hohe Berg am anderen Ufer aus großer Entfernung nicht zu sehen? Klar, je weiter man weg ist, umso kleiner sieht man alles. Aber am Horizont müsste sich etwas abzeichnen… Tut es aber nicht. Auf sieben Kilometer neigt sich die Kugel um einen Meter. Diese Beobachtung ist aber mit dem Auge oder dem „gesunden Menschenverstand“ so schwer zu erkennen, dass alle möglichen, relevanteren Ablenkungen die denkbare Erkenntnis verhindern. Außerdem hatten die Seeleute, da sie ja in Scheiben-Vorstellungen befangen waren, „zu Recht“ besorgt, irgendwann von dieser Scheibe herabzustürzen, sodass sie gar nicht erst den Versuch unternehmen. Unser Ketzer, der ein für heutige Verhältnisse „Allerweltsweisheit“ verbreiten wollte, hatte also verdammt schlechte Karten – auch bei uns, wenn wir uns in die Denkwelt vor 1450 zurückversetzten …

Nur weil wir ein neues Weltbild in der Schule gelernt haben und Bilder aus der Erdumlaufbahn gesehen haben, glauben wir Anderes …

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